(Anhang: Kongress-Programm)
Vom 30.11. bis
zum 2.12. 2000 fand in Wien der 21. Workshop–Kongress
Politische Psychologie der ‘Sektion Politische
Psychologie’ im ‘Berunfsverband Deutscher
Psychologen’ (BDP) statt. Das Thema lautete: ”Der
flexibilisierte Mensch und sein gesellschaftliches
Handeln. Subjektivität und Solidarität im Wandel.”
Dieses über der gesamten Veranstaltung schwebende Motto
wurde in fünf Stränge unterteilt[2]: 1. Flexibilisierte Arbeit; 2. Durchlässigkeit
und Flexibilität: Zur Herausbildung eines neuen Identitätstypus;
3. Neue Gemeinschaftsbildungen und Solidaritätsformen; 4.
Neue Populismen — neue Feindbilder und schliesslich
5. Nationale Identitäten — Europabewusstsein.
Das Thema war
somit weit gespannt und bot demensprechend genügend
Platz für fundierte und tiefgehende Analysen des Verhältnisses
Subjekt–Gesellschaft — besser gesagt: Es hätte
diesen Platz geboten, er wurde aber kaum genutzt. Statt
dessen bietet sich nun eine Menge Gelegenheit, das übliche
an der Psychologie zu kritisieren, denn auch wenn dieser
Kongress schon von sich behaupten kann, in gewisser Weise
kritisch gewesen zu sein, so schlichen sich doch bei
einigen, die sich vielleicht selber als kritisch
bezeichnen würden, ‚Fehler’ ein, die man bzw.
frau aus der Mainstream-Psychologie kennt und daher
eigentlich nicht reproduzieren sollte. Was ich jedoch im
ersten Teil meines Textes anprangere, ist nicht
Inhaltliches, sondern die Präsentation und die
Interaktion Betreffendes:
Was diesbezüglich
zu beobachten war, war eine altgewohnte Inszenierung:
Jene der Eitelkeiten. Nette ältere Herren (die waren
klarerweise prominenter vertreten) vergnügten sich
damit, sich gegenseitig ‘interessante’
Forschungsergebnisse und Überlegungen mitzuteilen, sich
vor klarer Positionierung und Inangriffnahme allzu
brisanter Themen zu hüten. Dabei verweilten sie in
altgewohnten Traditionen der Interkommunikation: Alle
Vorträge waren frontal, die Bezeichnung ”Workshops”
eine leere Hülse, wenn an etwas gearbeitet bzw. ‘geworkt’
wurde, dann an der eigenen Selbstdarstellung, insgesamt
bot sich somit ein phallisches Spektakel des Gegenmessens.
Es wurde in gewohnter Manier mit originellen Begriffen
hantiert, wobei meist nicht auf deren Notwendigkeit
geachtet wurde, sondern auf das Aufzeigen des eigenen
Wissens um sie oder auf den Umstand der doch so ‘treffenden’
Eigenkreation (”Ich habe das hier in Anlehnung an
‘X’ ‘xy’ genannt.”), was sich ja
immer gut präsentiert und einem (weniger, aber auch:
einer) Respekt verschafft (wenn’s klappt).
Die Inzenierung
klappte wohl, denn in den ‘Diskussionen’
meldeten sich dann nur in den bestimmten habituellen
Umgangsformen Geübte zu Wort, was für die restlichen
Beteiligten (zum Grossteil StudentInnen) über weite
Strecken den Charakter eines Ballspielspektakels hatte. Für
die Aktiven hatte es wohl mehr den Charakter der
gegenseitigen Bestätigung von Zugehörigkeit zu einem
erlesenen Zirkel von Weltverständigen und Kritischen.
Die Frage ist, ob das der Sinn der Sache, sprich: Solch
eines Kongresses ist.
Dass meine
Kritik relativ hart ausfällt mag darauf zurückzuführen
sein, dass ich im Juli 2000 auf dem studentischen
Kongress ”This is not a love song — radikale
Linke und Psychologie Heute” in Berlin war und dort
eine derartige wissenschaftliche Kompetenz und ein
ebensolches Zusammenarbeiten erlebte, dass dadurch allen
nachfolgenden Veranstaltungen eine hohe Latte gesetzt ist.
Das ist wohl darauf zurückzuführen, dass wir
StudentInnen unter uns waren, uns nicht in der ‘freien
Wildbahn’ der Scientific Communitiy behaupten
mussten und uns einfach mit bescheidener Neugier an die
diversen Themen herantasteten, ohne mit den Phalli zu
schwingen. Klarerweise gäbe es auch in diesem Fall
einiges zu kritisieren und natürlich wirken die
Habitusformen auch in den studentischen Bereich hinein,
da ja auch hier genügend KollegInnen bestrebt sind, den
Weg von ‘WissensexpertInnen’ einzuschlagen,
aber nichtsdestotrotz war das Ergebnis unterm Strich
weitaus befriedigender als im Falle des konkreten
Anlasses.
Der in Wien an
den Tag gelegte Habitus in seiner Eigenschaft als ”strukturierende
Struktur” (Bourdieu) tat also sein Bestes und
verfehlte keinesweg seine Wirkung, bis dann doch am Ende
des Schlussvortrages von Heiner Keupp ein gewisser Unmut
nicht mehr zu halten war. Der Anschaulichkeit wegen
schildere ich diese Beispiel ausführlicher: Heiner
Keupps Vortrag hätte einen Bogen spannen sollen, der die
vergangenen Kongresstage als Ausgangspunkt nimmt um sich
dann in zukünftige Entwicklungen und Szenarien
hineinzuwagen. Jedoch ”wagen” ist hier der
falsche Begriff, denn es wurde nichts gewagt, sondern
lediglich Altes aufgewärmt (Charles Taylor, Richard
Sennett u.a.) und schon bravurös im Umfang, jedoch
langweilig in der Umsetzung eklektizistisch vermischt präsentiert.
Endpunkt war das Konzept einer ”Bügergesellschaft”
des ”späten Foucault” (Keupp), der gerade für
uns ”Psychologen” immer wichtig sei. Die
radikalkritischen Argumente Foucaults zu verwässern hat
jedoch wenig mit der Entwicklung neuer Visionen zu tun,
sondern raubt diesen ihre Kraft um ein verkürztes - die
realen wirtschaftlich-sozialen Fakten unzureichend
beleuchtendes - aber ‚Hauptsache‘ positives
Konzept präsentieren zu können. Als der Vortrag in
diesem Ton konsequent endete, meldete sich ein Teilnehmer
aus dem Auditorium zu Wort, um die Schwächen der gehörten
Ausführungen eben bezüglich der ökonomischen
Zwangsverhältnisse herauszuarbeiten. Der Einwand wurde höflich
angehört, aber anstatt darauf einzugehen, wurde er so
stehen gelassen und wieder zu einem rosigeren Diskurs zurückgekehrt,
in etwa: Nur ein Zehntel Prozent des täglich an der Börse
umgesetzten Kapitals würde ausreichen, um den Hunger der
Welt zu stillen. Der gleiche Teilnehmer merkte hierauf
spontan (ohne Mikrophon) an, es handle sich dabei aber um
fiktives Kapital, dessen reale Einforderung die Börse
zum Zusammenbruch führen würde. Dieser Einwand wurde
von der Moderatorin unterdrückt, da die Zeit ja schon
vorangeschritten war. Daraufhin regte sich Unmut im Saal
und es wurde versucht, die bis dahin eher rigide und
Diskussionen oftmals zu wenig Raum gebende Struktur
aufzubrechen, was aber nicht gelang. Mit diesem Moment
der Spannung endete der Kongress offiziell.
Wenn sich
dieser Unmut schon früher geäussert hätte, wäre es
vielleicht möglich gewesen, den präsentierten Inhalten
mittels Kritik ein tieferes Verständnis der realen Zustände
hinzuzufügen, aber so blieb über die drei Tage das schöne
Bild der Wissen Habenden und Gebenden und den solches
Nehmenden erhalten. Die Reproduktion eines klassischen
Wissenschafter(Innen)habitus, der eigentlich in einer
Tradition von Kritik an bürgerlicher Wissenschaft einmal
seinen Stellenwert hatte, funktionierte dank reger
Teilnahme von ‚noch nie kritisch Gewesenen‘ und
‚früher mal kritisch Gewesenen‘ und murrender
Nichtteilnahme von sich der subtilen Einschüchterung
Unterwerfenden einwandfrei.
Das Thema des
Kongresses war ja so formuliert, dass eher angewandt-pschologische
Ansätze, wie sie (auch) in der politischen Psychologie
durchaus gang und gäbe sind (es wurde z.B. ein Abstract
mit dem Titel ”Wissensmanagement bei der Polizei”
— oder so ähnlich — eingereicht und abgelehnt),
weniger Platz hatten; das heisst, es wären ‘wirklich’
politische Ansätze zu erwarten gewesen, die sich auf
einem grundlegend-theoretischen Niveau mit aktuellen
gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen beschäftigen.
Im Prinzip war es dann auch so, nur krankte viel des
Vorgetragenen an einem alten Symptom der bürgerlichen
Psychologie: Dem Versuch, Begriffe zu fixieren, die
mangels Fundamenten ‘frei umherschweben’. Was
meine ich damit: Viele PsychologInnen hantieren (und
hantierten, denn das hat ja gewissermassen schon Methode)
mit Begriffen, die sie nicht weiter hinterfragen. Klaus Holzkamp nannte das das ”Kuriosum einer
‘Psychologie ohne Psychisches’”[3] und setzte damit seine Psychologiekritik
am grundlegendsten an, indem er sagte, die Psychologie
wisse gar nicht, wovon sie rede. Sie könne so zwar Glückstreffer
landen, bliebe aber ihrer Natur nach phänomenologisch
ohne sich jedoch darauf zu berufen (auf eine Phänomenologie
als Methode), nein, im Gegenteil, die Position einer (positivistischen)
Naturwissenschaft einnehmend.
Das war auf
diesem Kongress auch wieder schön zu beobachten. Es
waren hier zwar nicht VertreterInnen der
naturwissenschaftlichen Tradition, vielmehr der sozial-
oder kulturwissenschaftlichen etc., nichtsdestotrotz
verfielen sie reihenweise in einen — von Morus Markard in seinem Beitrag so formulierten —
”Begriffsrealismus”, den er als typisches
‘Problem’ der Psychologie anführte[4]. Diese Art von ‘wissenschaftlicher’
Herangehensweise verschleiert mehr, als dass sie aufklärt,
erklärt. Es wird irgendwo in einem Raum von frei umher
schwebenden Phänomena angesetzt, ohne die zu Grunde
liegenden Kategorien auf ihre Berechtigung bzw.
Entstehung/Konstruktion zu hinterfragen. Letztendlich
dient man bzw. frau damit den herrschenden Interessen,
indem man bzw. frau es unterlässt, deren Mitspiel
aufzuzeigen (und reproduziert so die bürgerliche
Psychologie, die man bzw. frau vielleicht kritisieren
wollte).
Ein gutes
Beispiel hierfür ist das Konzept der ”Identität”,
das Morus Markard in seinem Vortrag kritisierte[5]. Alle ‘plappern’ von und
schreiben über Identität ohne sie in ihrer historischen
Subjektivierungsform zu analysieren, ohne z.B. den
Zusammenhang zu einer Form der ‘Zwangsindividualisierung’
zu erkennen, die eine Flexibilisierung der Lebensentwürfe
vorantreibt im Dienste eines genau das verlangenden
Wirtschaftssystems.
Ein weiterer
Umstand, der aber derart ubiquitär ist, dass es oft
schon gar nicht mehr auffällt (was die Tragik dieser
Tatsache noch steigert) ist, dass sich anscheinend kaum
jemand über Geschlechterkonstruktionen, Geschlechterverhältnis
und generell feministische Theorien und Forschungen
Gedanken macht. Symptomatisch hierfür ist m.E. unter
anderem das Faktum, dass immer nur in den männlichen
Formen gesprochen wird. Wissenschafter, von denen ich
eigentlich erwarte, dass sie sich mit bestimmten Gegenständen,
die meiner Aufassung nach grundlegend sind, beschäftigen,
entpuppen sich dann als Ignoranten oder sie gaukeln eine
entsprechende Einstellung vor, kommen in Wahrheit aber
nur gewissen ‘political correctness’–Forderungen
nach und haben somit anscheinend das Notwendigste getan.
Am bestürzendsten ist das Ganze aber dann, wenn das
Gleiche auch von Wissenschafterinnen getan wird: Der Höhepunkt
am Kongress war eine Kollegin, die sich als Feministin
deklarierte und auch zu einem feministischen Thema
referierte, aber ständig von ”wir Politologen”
oder ”ihr Psychologen” sprach, ohne das aber im
Vorhinein als Strategie eines ‘Aufzeigens der Realität’
kund zu tun.
Von den Vorträgen
letztendlich positiv hervorzuheben sind Brigitte
Rauschenbach (ihr Thema waren verschiedene Epochen des
Umbruchs im historischen Überblick mit dem Nachweis,
dass in all diesen Zeiten der Krise das Geschlechterverhältnis
nie zu stürzen war) und Oliver Marchart (er versuchte
— unter anderem — zu zeigen, dass sich Europa
durch die Aufhebung der Sanktionen gegen die österreichische
Regierung vom eigenen Erbe bzw. Fundament des Faschismus/Nationalsozialismus
‘befreit’ hätte), sowie das Dreiergespann
Klaus Ottomeyer/ Ruth Wodak/ Peter Mattes (die zum Thema
‘Haider’ ihre Standpunkte und Analysen
vortrugen und austauschten). Inhaltlich interessant, aber
mässig vorgetragen, war der Beitrag Johann A. Schüleins
(er versuchte einen historischen Abriss über die
Wandlungen und Konstitutionen von Subjektivität zu
zeichnen, anhand von Kategorien wie Eltern- und
Partnerschaft, Kindererziehung, etc).[6]
Die ‘highlights’
aus den ‘Workshops’ waren: Romeo Bissuti,
Sebastian Reinfeld, Morus Markard, Gerald Steinhardt,
Ines Langemeyer und Ulli Böhm. Akzeptabel wiederum waren
Adam Zurek und Peter Gstettner.[7]
Eine letzte
Kategorie der Kritik betrifft eine bestimmte elitäre
Haltung. Diese äusserte sich einerseits in der Form
eines Eurozentrismus (von ‘Minderheiten’ bzw.
auch von der vom Wohlstand des Kapitalismus
ausgeschlossenen, aber dessen Gesetzen unterworfenen
Mehrheit war kaum die Rede) und andererseits in einer
Haltung von ‘Etabliertheit’. Damit meine ich,
dass die meisten ReferentInnen den ‘Gang durch die
Institutionen’ schon hinter sich haben oder
zumindest einen Fuss dort verankert haben und somit von
Flexibilisierung und Arbeitslosigkeit, etc. um ein
vielfaches weniger betroffen sind als die Mehrheit der
viel jüngeren TeilnehmerInnen, aber aus dieser Position
Analysen vornehmen und Veränderungs-, Gestaltungs- und
Entwicklungspotentiale aufzeigen bzw. aufzuzeigen
versuchen. Dass da dann zwischen ‘Realität’
und Imagination oft der Blick durch die ‘rosa Brille’
zum Tragen kommt, mag kaum verwundern.
Alles in Allem
bleibt das Bild einer scientific community, die den
Anspruch erhebt, kritisieren und verändern zu wollen,
aber weitgehend keine Lust (mehr?) hat, dem nachzukommen.
Den
OrganisatorInnen gebührt trotzdem Lob, denn immerhin war
dieser Workshop–Kongress laut Aussage eines
Besuchers einer der spannendsten in den letzten Jahren (ich
selbst habe hier keinen Vergleich, aber falls das
zutrifft, scheine ich nichts versäumt zu haben).
Jedenfalls wäre
vom Themenkomplex her — um zu meiner anfänglichen
Feststellung zurückzukehren — genügend Platz für
spannende Diskussionen gewesen; dass dieser nicht oder
besser gesagt: nur unzureichend genutzt wurde, mag wohl
als Bild für die Lage der Psychologie interpretierbar
sein.
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Der flexibilisierte Mensch und sein
gesellschaftliches Handeln. Subjektivität und Solidarität
im Wandel.
Der Prozess fortgeschrittener
Modernisierung geht mit einer Erosion traditioneller
gesellschaftlicher Institutionen einher, die eine
wichtige sinn- und bedeutungsstiftende Funktion hatten.
Die Veränderungen brachten einen starken
Individualisierungsdruck und neue Anforderungen an die
Menschen und ihr gesellschaftliches Handeln. Langfristige
Lebensentwürfe und Perspektiven werden angesichts der
kurzfristigen und divergierenden Anforderungen, denen die
Menschen gegenwärtig im gesamten Lebenszusammenhang
ausgesetzt sind, zunehmend hinfällig; herkömmliche
Identitätskonzepte greifen nicht mehr. Die Indizien dafür
sind vielfältig: Wir sprechen vom Ende der
Normalbiographie, vom Ende des Normalarbeitsverhältnisses,
vom Ende des bürgerlichen Subjekts, vom Ende der
lebenslangen Gemeinschaften. Diese Umbrüche schaffen
Probleme, bringen aber auch neue Herausforderungen und eröffnen
Chancen.
Der Workshop-Kongress Politische
Psychologie will die politischen Implikationen dieser
Entwicklungen entlang von fünf inhaltlichen
Themenbereichen ausloten:
Themenbereiche
Themenbereich 1: Flexibilisierte Arbeit
Tendenzen der Reorganisation von Arbeit,
wie projektförmige Arbeitsorganisation, raum-zeitlich
verteiltes Arbeiten, eine verstärkt outputorientierte
Entlohnung sowie der verstärkte Einsatz von Informations-
und Kommunikationstechnologien führen zu einer Veränderung
des Begriffs Arbeit und seiner Bedeutung für die
Menschen. Berufsbiographien sind zunehmend durch Brüche
und das Durchlaufen scheinbar unzusammenhängender
Arbeitsfelder gekennzeichnet. Die Wirtschaft fordert den
"flexiblen Beschäftigten" im vernetzten, häufig
nur mehr virtuellen Unternehmen.
Individualisierungstendenzen am Arbeitsmarkt und
unsichere Beschäftigungsverhältnisse sind gekoppelt mit
einem Rückgang unternehmerischer Verantwortung und
verwischen so Grenzen zwischen ArbeitgeberIn und
ArbeitnehmerIn. Risiken sogenannter atypischer Beschäftigungsformen
bestehen gleichermaßen wie die Chance des Entstehens
neuer Formen der Organisation in beruflichen Netzwerken,
ExpertInnennetzwerken, Solidargemeinschaften etc.
Themenbereich 2. Durchlässigkeit und
Flexibilität: Zur Herausbildung eines neuen Identitätstypus.
Jene Lebensprozesse, aus denen in der
Moderne die Bildung selbstgewisser Individuen resultierte
(langdauernde Beziehungskontexte, langfristig angelegte
Bildungsprozesse, Professionalisierung durch Arbeit und
Beruf, Erwerb und Besitz von Gütern) geraten zunehmend
in die Krise. Dafür werden Subjekte immer mehr mit der
Notwendigkeit konfrontiert, andauernd zwischen
verschiedenartigen Situationen umzuschalten, mit
unvereinbaren Ansprüchen an die eigene Person problemlos
zurechtzukommen und – je nach Außenkontext –
unterschiedliche Positionen zu übernehmen. Damit ändern
sich nicht nur die Konstitutionsbedingungen von
Subjektivität grundlegend, sondern auch die für die bürgerliche
Gesellschaft typische Konzeption eines kohärenten,
einheitlichen, abgegrenzten und über Zeit und Raum
kontinuierlichen Selbst wird hinfällig Es kommt zur
Ausbildung eines neuen Identitätstypus, der sich durch
stärkere Durchlässigkeit, Flexibilität und situative
Bestimmtheit auszeichnet. Offen bleibt die Frage nach den
sich daraus ergebenden Konsequenzen für politisches
Handeln und politische Beteiligung.
Themenbereich 3: Neue
Gemeinschaftsbildungen und Solidaritätsformen
An die Stelle traditioneller und
gewachsener Gemeinschaften treten zunehmend
Gesellungsformen, die unterschiedliche, zufällige Anlässe
zum Ausgangspunkt haben und oft wenig geplant und spontan
organisiert sind. Die Menschen sind verankert in
wechselnden und häufig widersprüchlichen Kontexten,
ohne diese scheinbaren Inkompatibilitäten als Brüche zu
erleben. Eng damit in Zusammenhang stehen neue Formen der
Kommunikation und des Austausches (Proto-Gemeinschaften,
"Internet-Generation", Clubbings). Mit der
partiellen Aufsplitterung des sozialen Raumes gehen
zumindest teilweise auch herkömmliche Formen der
Solidarität verloren und neue müssen entwickelt werden.
Themenbereich 4: Neue Populismen - neue
Feindbilder
Die Analyse und Diskussion neuer
populistischer Tendenzen und deren Verortung in
verschiedenen politischen Lagern (Beispiele u.a. Blair
oder Schröder einerseits, Haider oder Blocher
andererseits) gewinnt durch den Beitrag der Massenmedien
an deren Verbreitung und Wirksamkeit eine neue Qualität.
Mit dem Auftauchen neuer Feindbilder im Rahmen
populistischer Politik und deren Austauschbarkeit
entsteht ein bedarfsorientiertes Instrument der Steuerung
politischer Bewegungen. Das "Patchwork-Feindbild"
(ein bisschen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, ein
bisschen Antisemitismus, ein bisschen Sozialschmarotzer,
ein bisschen internationale Verschwörung etc.) ist
beinahe jedem beliebigen gesellschaftspolitischen Kontext
anpassbar.
Themenbereich 5: Nationale Identitäten -
Europabewusstsein
Im Zuge der Formierung der Europäischen
Union wurden in den letzten Jahren in erster Linie
Rahmenbedingungen und Spielregeln des Zusammenlebens der
"Vereinigten Staaten von Europa" definiert. Die
momentane Diskussion wird zunehmend von der Frage
bestimmt, wer nun neben der ökonomischen auch die
moralische Legitimation besitzt, im europäischen Haus
geduldet zu bleiben bzw. überhaupt einziehen zu dürfen.
Die neue Wertegemeinschaft des guten Europäers richtet
sich gegen Nationalismen, Rassismen, Intoleranz,
Menschenrechtsverletzungen etc. Im Zentrum der Definition
stehen die Wahrung der Menschenrechte und die "Bejahung"
kultureller Vielfalt. Das nationale Element soll im Zuge
dieses gesellschaftlichen Umwälzungsprozesses seine
identitätsstiftende Bedeutung verlieren. Es stellt sich
die Frage nach den Auswirkungen auf das Zusammenleben der
Menschen, nach der Bedeutung einer oder mehrerer Heimaten.
Kongress–Programm:
Eröffnungsvortrag: Brigitte Rauschenbach
(Berlin)
"Die Zeit ist aus den Fugen".
Epochen des Umbruchs und Geschlechterordnung.
Parallele Workshops
Workshop 1: Themenbereich 2:
Lieselotte Hermes da Fonseca (Hamburg).
Das Subjekt des Jernigan im Visual-Human-Projekt
Thomas Kliche (Hamburg). Exclutainment:
Rituale der Selbstdiskursivierung in "Big Brother"
und anderen Konkurrenzgemeinschaften.
Joas Sebastian Nebe (Hamburg). "Big
Brother" und "Inselduell": Die Spaß- und
soziale Zurichtungsmaschine.
Anette Scheld (Hamburg). Körperbilder des
Kinos
Workshop 2: Themenbereich 4:
Romeo Bissuti (Wien). Extreme Flexibilität:
Kongruenzen zwischen FPÖ und NLP
Georg Gröller (Wien). Warum fasziniert
uns Haider?
Peter Gstettner (Klagenfurt). Die Gefahr
des Vorbilds: Der extreme Rechtspopulismus des Jörg
Haider.
Sebastian Reinfeld (Wien). Die
Gemeinschaft der Fleissigen und Anständigen. Eine
populistische Konstruktion wird ein sozialer Fakt.
Workshop 3: Themenbereich 4 und 5:
Oliver Decker und Elmar Brähler (Leipzig).
Antisemitismus und Autoritarismus im ost-westdeutschen
Vergleich.
Christiane Dienel (Magdeburg). Europafördermittel:
Almosen oder Ansporn.
Rainer Dollase (Bielefeld).
Multikulturelle Schulklassen-ein Desaster?
Jürgen Maes (Trier). Zur
Ausdifferenzierung politischer Grundüberzeugungen bei
Ostdeutschen und Westdeutschen.
Vortrag (öffentlich zugänglich):
Eberhard Ulich (Zürich) Arbeitsgesellschaft. Anmerkungen
zu Vergangenheit und Zukunft.
Freitag,
01.12.2000
Podiumsdiskussion zum Phänomen Haider
Eröffnungsstatements: Klaus Ottomeyer (Klagenfurt).
Die Haider-Show: Zur Psychopolitik der FPÖ.
Hans Peter Mattes (Berlin). Postmoderne
Fallenstellerei und das Interesse an der Macht.
Ruth Wodak (Wien). Komplexe Fragen und
einfache Antworten: Zur Rhetorik der FPÖ.
Parallele Workshops
Workshop 4: Themenbereich 1:
Andrea Birbaumer (Wien). Verschwimmende
Grenzen Telearbeit als Symptom für Veränderungen der
Arbeitswelt und die Wertigkeit von "Arbeit".
Karin Bott-Bodenhausen (Bielefeld) Die
Flexibilisierung des Ehrenamtes.
Workshop 5: Themenbereich 2:
Morus Markard (Berlin). Warum ich als
Kritischer Psychologe keinen Grund sehe, mich positiv auf
das Identitätskonzept einzulassen.
Adam Zurek (Bremen). Entfremdung oder
Identität? Zur Konfliktverdinglichung im
Bewusstseinsfeld von "politischen" und "Alltags-"Menschen.
Vortrag: Johann August Schülein (Wien).
Vom autoritären Charakter zum flexiblen Menschen? Über
Veränderungen der Konstitutions- und
Reproduktionsbedingungen von Subjektivität.
Parallele Workshops
Workshop 6: Themenbereich 2:
Oliver Decker und Elmar Brähler (Leipzig).
Subjektivität unter Prothesenbedingungen.
Andreas Henkenberens (Bremen). Kopie oder
Original? Über die Ersatzteillager der Identitätsfabriken
und den Weg hinaus.
Ilonka Horvath (Wien) Identitäten als
kontextabhängige Zugehörigkeiten und ihr Zusammenhang
mit Privilegien und Diskriminierung.
Wolfram Kölling (Stiefenhofen). Scham und
Schamlosigkeit in der Suchtgesellschaft - über die
Bedeutung von Schamgefühlen für die Persönlichkeit und
die Entwicklung der Persönlichkeit in der flexiblen
Gesellschaft.
Workshop 7: Themenbereich 3:
Aglaya Przyborsky (Wien). Technoparties,
Breakdance, Fußballrandale - Empirische Rekonstruktion
jugendlicher Aktionismen.
Thomas Slunecko (Wien). Die Rückkehr der
Arenen.
Gerald Steinhardt (Wien). Media Spaces.
Elektronische Räume als neue Medien des Austausches und
der Partizipation.
Samstag,
02.12.2000
Parallele Vorträge: Hans Joachim Busch (Frankfurt).
Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft:
Theoretische Bestimmungen und zeitdiagnostische Einschätzungen.
Oliver Marchart (Wien). Re-Founding Europe.
Europa und Nationalismus.
Parallele Workshops
Workshop 8: Themenbereich 4:
Edgar Forster (Salzburg).
Konfliktproduktion und Feindbilder
Thomas Kliche (Hamburg). Panzerkreuzer,
Profis, Psychopathen, Primitive. Befeindungsdiskurse und
normative Matrizen deutscher Printmedien im Kosovokrieg
1999.
Workshop 9: Themenbereich 1:
Rainer Dollase (Bielefeld). Latente ideale
temporale Muster - eine Barrikade gegen die
Zeitflexibilisierung?
Ines Langemeyer (Berlin). Subjektivitätsformen
in der informationstechnologischen Arbeit. Eine
ideologietheoretische Untersuchung zum ”Verantwortungs”-zuwachs
in den neuen Arbeitsverhältnissen.
Ralph Sichler (Bremen). Neue Arbeitswelt
und Autonomie Wege menschlicher Selbstbestimmung im
flexibilisierten Kapitalismus.
Parallele Workshops
Workshop 10: Themenbereich 5:
Joe Berghold (Wien). Die globale
Gesellschaft als psychologische Herausforderung.
Deutschlands.
Dietmar Larcher (Klagenfurt). Vormoderne
Politik für eine postmoderne Gesellschaft.
Workshop 11: Themenbereich 2 und 3:
Ulrike Böhm (Wien). Akteurinnen im
sozialen Wandel - Altagspraxen und soziale Netze von
Frauen in der Stadt als Potentiale für neue
Solidarisierungsformen und Demokratieentwicklung.
Regina Köpl (Wien). Subjektivität und
politische Praxis zwischen klassisch politischer Theorie
und feministischen Gegenentwürfen.
Volker Münch (München). Frisches Grün -
eine psychodynamische Organisationsberatung für die GRÜNEN.
Workshop 12: Themenbereich 1 und 2:
Ute Fischer (Dortmund). Das situative
Subjekt? Kontinuität und Wandel der Erwerbsidentität
von Frauen im Transformationsprozess nach der deutschen
Vereinigung.
Thomas Kieselbach (Bremen). Sozialer
Geleitschutz und nachhaltige Beschäftigungsfähigkeit:
Ein interdisziplinäres EU Forschungsprojekt zur Bewältigung
beruflicher Transitionen.
Schlussvortrag: Heiner Keupp (München).
Zukünfte des Individuums: Fitness für den Markt oder
Selbstsorge in der Zivilgesellschaft.