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Ein Fest der Eitelkeiten [1] von Daniel Sanin

(Anhang: Kongress-Programm)

Vom 30.11. bis zum 2.12. 2000 fand in Wien der 21. Workshop–Kongress Politische Psychologie der ‘Sektion Politische Psychologie’ im ‘Berunfsverband Deutscher Psychologen’ (BDP) statt. Das Thema lautete: ”Der flexibilisierte Mensch und sein gesellschaftliches Handeln. Subjektivität und Solidarität im Wandel.” Dieses über der gesamten Veranstaltung schwebende Motto wurde in fünf Stränge unterteilt[2]: 1. Flexibilisierte Arbeit; 2. Durchlässigkeit und Flexibilität: Zur Herausbildung eines neuen Identitätstypus; 3. Neue Gemeinschaftsbildungen und Solidaritätsformen; 4. Neue Populismen — neue Feindbilder und schliesslich 5. Nationale Identitäten — Europabewusstsein.

Das Thema war somit weit gespannt und bot demensprechend genügend Platz für fundierte und tiefgehende Analysen des Verhältnisses Subjekt–Gesellschaft — besser gesagt: Es hätte diesen Platz geboten, er wurde aber kaum genutzt. Statt dessen bietet sich nun eine Menge Gelegenheit, das übliche an der Psychologie zu kritisieren, denn auch wenn dieser Kongress schon von sich behaupten kann, in gewisser Weise kritisch gewesen zu sein, so schlichen sich doch bei einigen, die sich vielleicht selber als kritisch bezeichnen würden, ‚Fehler’ ein, die man bzw. frau aus der Mainstream-Psychologie kennt und daher eigentlich nicht reproduzieren sollte. Was ich jedoch im ersten Teil meines Textes anprangere, ist nicht Inhaltliches, sondern die Präsentation und die Interaktion Betreffendes:

Die Form (der Habitus, der Habitus . .)

Was diesbezüglich zu beobachten war, war eine altgewohnte Inszenierung: Jene der Eitelkeiten. Nette ältere Herren (die waren klarerweise prominenter vertreten) vergnügten sich damit, sich gegenseitig ‘interessante’ Forschungsergebnisse und Überlegungen mitzuteilen, sich vor klarer Positionierung und Inangriffnahme allzu brisanter Themen zu hüten. Dabei verweilten sie in altgewohnten Traditionen der Interkommunikation: Alle Vorträge waren frontal, die Bezeichnung ”Workshops” eine leere Hülse, wenn an etwas gearbeitet bzw. ‘geworkt’ wurde, dann an der eigenen Selbstdarstellung, insgesamt bot sich somit ein phallisches Spektakel des Gegenmessens. Es wurde in gewohnter Manier mit originellen Begriffen hantiert, wobei meist nicht auf deren Notwendigkeit geachtet wurde, sondern auf das Aufzeigen des eigenen Wissens um sie oder auf den Umstand der doch so ‘treffenden’ Eigenkreation (”Ich habe das hier in Anlehnung an ‘X’ ‘xy’ genannt.”), was sich ja immer gut präsentiert und einem (weniger, aber auch: einer) Respekt verschafft (wenn’s klappt).

Die Inzenierung klappte wohl, denn in den ‘Diskussionen’ meldeten sich dann nur in den bestimmten habituellen Umgangsformen Geübte zu Wort, was für die restlichen Beteiligten (zum Grossteil StudentInnen) über weite Strecken den Charakter eines Ballspielspektakels hatte. Für die Aktiven hatte es wohl mehr den Charakter der gegenseitigen Bestätigung von Zugehörigkeit zu einem erlesenen Zirkel von Weltverständigen und Kritischen. Die Frage ist, ob das der Sinn der Sache, sprich: Solch eines Kongresses ist.

Dass meine Kritik relativ hart ausfällt mag darauf zurückzuführen sein, dass ich im Juli 2000 auf dem studentischen Kongress ”This is not a love song — radikale Linke und Psychologie Heute” in Berlin war und dort eine derartige wissenschaftliche Kompetenz und ein ebensolches Zusammenarbeiten erlebte, dass dadurch allen nachfolgenden Veranstaltungen eine hohe Latte gesetzt ist. Das ist wohl darauf zurückzuführen, dass wir StudentInnen unter uns waren, uns nicht in der ‘freien Wildbahn’ der Scientific Communitiy behaupten mussten und uns einfach mit bescheidener Neugier an die diversen Themen herantasteten, ohne mit den Phalli zu schwingen. Klarerweise gäbe es auch in diesem Fall einiges zu kritisieren und natürlich wirken die Habitusformen auch in den studentischen Bereich hinein, da ja auch hier genügend KollegInnen bestrebt sind, den Weg von ‘WissensexpertInnen’ einzuschlagen, aber nichtsdestotrotz war das Ergebnis unterm Strich weitaus befriedigender als im Falle des konkreten Anlasses.

Der in Wien an den Tag gelegte Habitus in seiner Eigenschaft als ”strukturierende Struktur” (Bourdieu) tat also sein Bestes und verfehlte keinesweg seine Wirkung, bis dann doch am Ende des Schlussvortrages von Heiner Keupp ein gewisser Unmut nicht mehr zu halten war. Der Anschaulichkeit wegen schildere ich diese Beispiel ausführlicher: Heiner Keupps Vortrag hätte einen Bogen spannen sollen, der die vergangenen Kongresstage als Ausgangspunkt nimmt um sich dann in zukünftige Entwicklungen und Szenarien hineinzuwagen. Jedoch ”wagen” ist hier der falsche Begriff, denn es wurde nichts gewagt, sondern lediglich Altes aufgewärmt (Charles Taylor, Richard Sennett u.a.) und schon bravurös im Umfang, jedoch langweilig in der Umsetzung eklektizistisch vermischt präsentiert. Endpunkt war das Konzept einer ”Bügergesellschaft” des ”späten Foucault” (Keupp), der gerade für uns ”Psychologen” immer wichtig sei. Die radikalkritischen Argumente Foucaults zu verwässern hat jedoch wenig mit der Entwicklung neuer Visionen zu tun, sondern raubt diesen ihre Kraft um ein verkürztes - die realen wirtschaftlich-sozialen Fakten unzureichend beleuchtendes - aber ‚Hauptsache‘ positives Konzept präsentieren zu können. Als der Vortrag in diesem Ton konsequent endete, meldete sich ein Teilnehmer aus dem Auditorium zu Wort, um die Schwächen der gehörten Ausführungen eben bezüglich der ökonomischen Zwangsverhältnisse herauszuarbeiten. Der Einwand wurde höflich angehört, aber anstatt darauf einzugehen, wurde er so stehen gelassen und wieder zu einem rosigeren Diskurs zurückgekehrt, in etwa: Nur ein Zehntel Prozent des täglich an der Börse umgesetzten Kapitals würde ausreichen, um den Hunger der Welt zu stillen. Der gleiche Teilnehmer merkte hierauf spontan (ohne Mikrophon) an, es handle sich dabei aber um fiktives Kapital, dessen reale Einforderung die Börse zum Zusammenbruch führen würde. Dieser Einwand wurde von der Moderatorin unterdrückt, da die Zeit ja schon vorangeschritten war. Daraufhin regte sich Unmut im Saal und es wurde versucht, die bis dahin eher rigide und Diskussionen oftmals zu wenig Raum gebende Struktur aufzubrechen, was aber nicht gelang. Mit diesem Moment der Spannung endete der Kongress offiziell.

Wenn sich dieser Unmut schon früher geäussert hätte, wäre es vielleicht möglich gewesen, den präsentierten Inhalten mittels Kritik ein tieferes Verständnis der realen Zustände hinzuzufügen, aber so blieb über die drei Tage das schöne Bild der Wissen Habenden und Gebenden und den solches Nehmenden erhalten. Die Reproduktion eines klassischen Wissenschafter(Innen)habitus, der eigentlich in einer Tradition von Kritik an bürgerlicher Wissenschaft einmal seinen Stellenwert hatte, funktionierte dank reger Teilnahme von ‚noch nie kritisch Gewesenen‘ und ‚früher mal kritisch Gewesenen‘ und murrender Nichtteilnahme von sich der subtilen Einschüchterung Unterwerfenden einwandfrei.

Der Inhalt

Das Thema des Kongresses war ja so formuliert, dass eher angewandt-pschologische Ansätze, wie sie (auch) in der politischen Psychologie durchaus gang und gäbe sind (es wurde z.B. ein Abstract mit dem Titel ”Wissensmanagement bei der Polizei” — oder so ähnlich — eingereicht und abgelehnt), weniger Platz hatten; das heisst, es wären ‘wirklich’ politische Ansätze zu erwarten gewesen, die sich auf einem grundlegend-theoretischen Niveau mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen beschäftigen. Im Prinzip war es dann auch so, nur krankte viel des Vorgetragenen an einem alten Symptom der bürgerlichen Psychologie: Dem Versuch, Begriffe zu fixieren, die mangels Fundamenten ‘frei umherschweben’. Was meine ich damit: Viele PsychologInnen hantieren (und hantierten, denn das hat ja gewissermassen schon Methode) mit Begriffen, die sie nicht weiter hinterfragen. Klaus Holzkamp nannte das das ”Kuriosum einer ‘Psychologie ohne Psychisches’”[3] und setzte damit seine Psychologiekritik am grundlegendsten an, indem er sagte, die Psychologie wisse gar nicht, wovon sie rede. Sie könne so zwar Glückstreffer landen, bliebe aber ihrer Natur nach phänomenologisch ohne sich jedoch darauf zu berufen (auf eine Phänomenologie als Methode), nein, im Gegenteil, die Position einer (positivistischen) Naturwissenschaft einnehmend.

Das war auf diesem Kongress auch wieder schön zu beobachten. Es waren hier zwar nicht VertreterInnen der naturwissenschaftlichen Tradition, vielmehr der sozial- oder kulturwissenschaftlichen etc., nichtsdestotrotz verfielen sie reihenweise in einen — von Morus Markard in seinem Beitrag so formulierten — ”Begriffsrealismus”, den er als typisches ‘Problem’ der Psychologie anführte[4]. Diese Art von ‘wissenschaftlicher’ Herangehensweise verschleiert mehr, als dass sie aufklärt, erklärt. Es wird irgendwo in einem Raum von frei umher schwebenden Phänomena angesetzt, ohne die zu Grunde liegenden Kategorien auf ihre Berechtigung bzw. Entstehung/Konstruktion zu hinterfragen. Letztendlich dient man bzw. frau damit den herrschenden Interessen, indem man bzw. frau es unterlässt, deren Mitspiel aufzuzeigen (und reproduziert so die bürgerliche Psychologie, die man bzw. frau vielleicht kritisieren wollte).

Ein gutes Beispiel hierfür ist das Konzept der ”Identität”, das Morus Markard in seinem Vortrag kritisierte[5]. Alle ‘plappern’ von und schreiben über Identität ohne sie in ihrer historischen Subjektivierungsform zu analysieren, ohne z.B. den Zusammenhang zu einer Form der ‘Zwangsindividualisierung’ zu erkennen, die eine Flexibilisierung der Lebensentwürfe vorantreibt im Dienste eines genau das verlangenden Wirtschaftssystems.

Ein weiterer Umstand, der aber derart ubiquitär ist, dass es oft schon gar nicht mehr auffällt (was die Tragik dieser Tatsache noch steigert) ist, dass sich anscheinend kaum jemand über Geschlechterkonstruktionen, Geschlechterverhältnis und generell feministische Theorien und Forschungen Gedanken macht. Symptomatisch hierfür ist m.E. unter anderem das Faktum, dass immer nur in den männlichen Formen gesprochen wird. Wissenschafter, von denen ich eigentlich erwarte, dass sie sich mit bestimmten Gegenständen, die meiner Aufassung nach grundlegend sind, beschäftigen, entpuppen sich dann als Ignoranten oder sie gaukeln eine entsprechende Einstellung vor, kommen in Wahrheit aber nur gewissen ‘political correctness’–Forderungen nach und haben somit anscheinend das Notwendigste getan. Am bestürzendsten ist das Ganze aber dann, wenn das Gleiche auch von Wissenschafterinnen getan wird: Der Höhepunkt am Kongress war eine Kollegin, die sich als Feministin deklarierte und auch zu einem feministischen Thema referierte, aber ständig von ”wir Politologen” oder ”ihr Psychologen” sprach, ohne das aber im Vorhinein als Strategie eines ‘Aufzeigens der Realität’ kund zu tun.

Von den Vorträgen letztendlich positiv hervorzuheben sind Brigitte Rauschenbach (ihr Thema waren verschiedene Epochen des Umbruchs im historischen Überblick mit dem Nachweis, dass in all diesen Zeiten der Krise das Geschlechterverhältnis nie zu stürzen war) und Oliver Marchart (er versuchte — unter anderem — zu zeigen, dass sich Europa durch die Aufhebung der Sanktionen gegen die österreichische Regierung vom eigenen Erbe bzw. Fundament des Faschismus/Nationalsozialismus ‘befreit’ hätte), sowie das Dreiergespann Klaus Ottomeyer/ Ruth Wodak/ Peter Mattes (die zum Thema ‘Haider’ ihre Standpunkte und Analysen vortrugen und austauschten). Inhaltlich interessant, aber mässig vorgetragen, war der Beitrag Johann A. Schüleins (er versuchte einen historischen Abriss über die Wandlungen und Konstitutionen von Subjektivität zu zeichnen, anhand von Kategorien wie Eltern- und Partnerschaft, Kindererziehung, etc).[6]

Die ‘highlights’ aus den ‘Workshops’ waren: Romeo Bissuti, Sebastian Reinfeld, Morus Markard, Gerald Steinhardt, Ines Langemeyer und Ulli Böhm. Akzeptabel wiederum waren Adam Zurek und Peter Gstettner.[7]

Eine letzte Kategorie der Kritik betrifft eine bestimmte elitäre Haltung. Diese äusserte sich einerseits in der Form eines Eurozentrismus (von ‘Minderheiten’ bzw. auch von der vom Wohlstand des Kapitalismus ausgeschlossenen, aber dessen Gesetzen unterworfenen Mehrheit war kaum die Rede) und andererseits in einer Haltung von ‘Etabliertheit’. Damit meine ich, dass die meisten ReferentInnen den ‘Gang durch die Institutionen’ schon hinter sich haben oder zumindest einen Fuss dort verankert haben und somit von Flexibilisierung und Arbeitslosigkeit, etc. um ein vielfaches weniger betroffen sind als die Mehrheit der viel jüngeren TeilnehmerInnen, aber aus dieser Position Analysen vornehmen und Veränderungs-, Gestaltungs- und Entwicklungspotentiale aufzeigen bzw. aufzuzeigen versuchen. Dass da dann zwischen ‘Realität’ und Imagination oft der Blick durch die ‘rosa Brille’ zum Tragen kommt, mag kaum verwundern.

Alles in Allem bleibt das Bild einer scientific community, die den Anspruch erhebt, kritisieren und verändern zu wollen, aber weitgehend keine Lust (mehr?) hat, dem nachzukommen.

Den OrganisatorInnen gebührt trotzdem Lob, denn immerhin war dieser Workshop–Kongress laut Aussage eines Besuchers einer der spannendsten in den letzten Jahren (ich selbst habe hier keinen Vergleich, aber falls das zutrifft, scheine ich nichts versäumt zu haben).

Jedenfalls wäre vom Themenkomplex her — um zu meiner anfänglichen Feststellung zurückzukehren — genügend Platz für spannende Diskussionen gewesen; dass dieser nicht oder besser gesagt: nur unzureichend genutzt wurde, mag wohl als Bild für die Lage der Psychologie interpretierbar sein.


[1]Meine Kritik bezieht sich auf die von mir besuchten Vorträge bzw. ‘Workshops’, d.h. nicht auf: Den Vortrag von Hans–Joachim Busch und ebenso nicht auf die ‘Workshops’: 1, 3, 4, 6, 8, 10 und 12 (siehe Programm im Anhang). zurück

[2]Siehe Anhang. zurück

[3]1983. Grundlegung der Psychologie. Frankfurt: Campus. (S.44) zurück

[4]”Es gibt ja Leute, die glauben, sie hätten tatsächlich ein Überich.” (Von mir jetzt nur aus dem Gedächtnis wiedergegeben.) zurück

[5]Titel seines Beitrages: ”Warum ich als Kritischer Psychologe keinen Grund sehe, mich positiv auf das Identitäskonzept einzulassen.” zurück

[6]Zum Vortrag von Hans–Joachim Busch kann ich hier nicht Stellung beziehen. zurück

[7]Es fehlt die Möglichkeit zur Beurteilung der Workshops von: Hermes da Fonseca, Kliche (WS 1 & 8), Nebe, Scheld, Decker & Brähler (WS 3 & 6), Dollase (WS 3), Maes, Birbaumer, Bott–Bodenhausen, Henkenbehrens, Horvath, Kölling, Forster, Berghold, Larcher, Fischer, Kieselbach.

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Anhang (zurück)

Der flexibilisierte Mensch und sein gesellschaftliches Handeln. Subjektivität und Solidarität im Wandel.

Der Prozess fortgeschrittener Modernisierung geht mit einer Erosion traditioneller gesellschaftlicher Institutionen einher, die eine wichtige sinn- und bedeutungsstiftende Funktion hatten. Die Veränderungen brachten einen starken Individualisierungsdruck und neue Anforderungen an die Menschen und ihr gesellschaftliches Handeln. Langfristige Lebensentwürfe und Perspektiven werden angesichts der kurzfristigen und divergierenden Anforderungen, denen die Menschen gegenwärtig im gesamten Lebenszusammenhang ausgesetzt sind, zunehmend hinfällig; herkömmliche Identitätskonzepte greifen nicht mehr. Die Indizien dafür sind vielfältig: Wir sprechen vom Ende der Normalbiographie, vom Ende des Normalarbeitsverhältnisses, vom Ende des bürgerlichen Subjekts, vom Ende der lebenslangen Gemeinschaften. Diese Umbrüche schaffen Probleme, bringen aber auch neue Herausforderungen und eröffnen Chancen.

Der Workshop-Kongress Politische Psychologie will die politischen Implikationen dieser Entwicklungen entlang von fünf inhaltlichen Themenbereichen ausloten:

 

Themenbereiche

Themenbereich 1: Flexibilisierte Arbeit

Tendenzen der Reorganisation von Arbeit, wie projektförmige Arbeitsorganisation, raum-zeitlich verteiltes Arbeiten, eine verstärkt outputorientierte Entlohnung sowie der verstärkte Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien führen zu einer Veränderung des Begriffs Arbeit und seiner Bedeutung für die Menschen. Berufsbiographien sind zunehmend durch Brüche und das Durchlaufen scheinbar unzusammenhängender Arbeitsfelder gekennzeichnet. Die Wirtschaft fordert den "flexiblen Beschäftigten" im vernetzten, häufig nur mehr virtuellen Unternehmen. Individualisierungstendenzen am Arbeitsmarkt und unsichere Beschäftigungsverhältnisse sind gekoppelt mit einem Rückgang unternehmerischer Verantwortung und verwischen so Grenzen zwischen ArbeitgeberIn und ArbeitnehmerIn. Risiken sogenannter atypischer Beschäftigungsformen bestehen gleichermaßen wie die Chance des Entstehens neuer Formen der Organisation in beruflichen Netzwerken, ExpertInnennetzwerken, Solidargemeinschaften etc.

Themenbereich 2. Durchlässigkeit und Flexibilität: Zur Herausbildung eines neuen Identitätstypus.

Jene Lebensprozesse, aus denen in der Moderne die Bildung selbstgewisser Individuen resultierte (langdauernde Beziehungskontexte, langfristig angelegte Bildungsprozesse, Professionalisierung durch Arbeit und Beruf, Erwerb und Besitz von Gütern) geraten zunehmend in die Krise. Dafür werden Subjekte immer mehr mit der Notwendigkeit konfrontiert, andauernd zwischen verschiedenartigen Situationen umzuschalten, mit unvereinbaren Ansprüchen an die eigene Person problemlos zurechtzukommen und – je nach Außenkontext – unterschiedliche Positionen zu übernehmen. Damit ändern sich nicht nur die Konstitutionsbedingungen von Subjektivität grundlegend, sondern auch die für die bürgerliche Gesellschaft typische Konzeption eines kohärenten, einheitlichen, abgegrenzten und über Zeit und Raum kontinuierlichen Selbst wird hinfällig Es kommt zur Ausbildung eines neuen Identitätstypus, der sich durch stärkere Durchlässigkeit, Flexibilität und situative Bestimmtheit auszeichnet. Offen bleibt die Frage nach den sich daraus ergebenden Konsequenzen für politisches Handeln und politische Beteiligung.

Themenbereich 3: Neue Gemeinschaftsbildungen und Solidaritätsformen

An die Stelle traditioneller und gewachsener Gemeinschaften treten zunehmend Gesellungsformen, die unterschiedliche, zufällige Anlässe zum Ausgangspunkt haben und oft wenig geplant und spontan organisiert sind. Die Menschen sind verankert in wechselnden und häufig widersprüchlichen Kontexten, ohne diese scheinbaren Inkompatibilitäten als Brüche zu erleben. Eng damit in Zusammenhang stehen neue Formen der Kommunikation und des Austausches (Proto-Gemeinschaften, "Internet-Generation", Clubbings). Mit der partiellen Aufsplitterung des sozialen Raumes gehen zumindest teilweise auch herkömmliche Formen der Solidarität verloren und neue müssen entwickelt werden.

Themenbereich 4: Neue Populismen - neue Feindbilder

Die Analyse und Diskussion neuer populistischer Tendenzen und deren Verortung in verschiedenen politischen Lagern (Beispiele u.a. Blair oder Schröder einerseits, Haider oder Blocher andererseits) gewinnt durch den Beitrag der Massenmedien an deren Verbreitung und Wirksamkeit eine neue Qualität. Mit dem Auftauchen neuer Feindbilder im Rahmen populistischer Politik und deren Austauschbarkeit entsteht ein bedarfsorientiertes Instrument der Steuerung politischer Bewegungen. Das "Patchwork-Feindbild" (ein bisschen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, ein bisschen Antisemitismus, ein bisschen Sozialschmarotzer, ein bisschen internationale Verschwörung etc.) ist beinahe jedem beliebigen gesellschaftspolitischen Kontext anpassbar.

Themenbereich 5: Nationale Identitäten - Europabewusstsein

Im Zuge der Formierung der Europäischen Union wurden in den letzten Jahren in erster Linie Rahmenbedingungen und Spielregeln des Zusammenlebens der "Vereinigten Staaten von Europa" definiert. Die momentane Diskussion wird zunehmend von der Frage bestimmt, wer nun neben der ökonomischen auch die moralische Legitimation besitzt, im europäischen Haus geduldet zu bleiben bzw. überhaupt einziehen zu dürfen. Die neue Wertegemeinschaft des guten Europäers richtet sich gegen Nationalismen, Rassismen, Intoleranz, Menschenrechtsverletzungen etc. Im Zentrum der Definition stehen die Wahrung der Menschenrechte und die "Bejahung" kultureller Vielfalt. Das nationale Element soll im Zuge dieses gesellschaftlichen Umwälzungsprozesses seine identitätsstiftende Bedeutung verlieren. Es stellt sich die Frage nach den Auswirkungen auf das Zusammenleben der Menschen, nach der Bedeutung einer oder mehrerer Heimaten.

 

Kongress–Programm:

Eröffnungsvortrag: Brigitte Rauschenbach (Berlin)

"Die Zeit ist aus den Fugen". Epochen des Umbruchs und Geschlechterordnung.

 

Parallele Workshops

Workshop 1: Themenbereich 2:

Lieselotte Hermes da Fonseca (Hamburg). Das Subjekt des Jernigan im Visual-Human-Projekt

Thomas Kliche (Hamburg). Exclutainment: Rituale der Selbstdiskursivierung in "Big Brother" und anderen Konkurrenzgemeinschaften.

Joas Sebastian Nebe (Hamburg). "Big Brother" und "Inselduell": Die Spaß- und soziale Zurichtungsmaschine.

Anette Scheld (Hamburg). Körperbilder des Kinos

 

Workshop 2: Themenbereich 4:

Romeo Bissuti (Wien). Extreme Flexibilität: Kongruenzen zwischen FPÖ und NLP

Georg Gröller (Wien). Warum fasziniert uns Haider?

Peter Gstettner (Klagenfurt). Die Gefahr des Vorbilds: Der extreme Rechtspopulismus des Jörg Haider.

Sebastian Reinfeld (Wien). Die Gemeinschaft der Fleissigen und Anständigen. Eine populistische Konstruktion wird ein sozialer Fakt.

 

Workshop 3: Themenbereich 4 und 5:

Oliver Decker und Elmar Brähler (Leipzig). Antisemitismus und Autoritarismus im ost-westdeutschen Vergleich.

Christiane Dienel (Magdeburg). Europafördermittel: Almosen oder Ansporn.

Rainer Dollase (Bielefeld). Multikulturelle Schulklassen-ein Desaster?

Jürgen Maes (Trier). Zur Ausdifferenzierung politischer Grundüberzeugungen bei Ostdeutschen und Westdeutschen.

Vortrag (öffentlich zugänglich): Eberhard Ulich (Zürich) Arbeitsgesellschaft. Anmerkungen zu Vergangenheit und Zukunft.

 

Freitag, 01.12.2000

Podiumsdiskussion zum Phänomen Haider

Eröffnungsstatements: Klaus Ottomeyer (Klagenfurt). Die Haider-Show: Zur Psychopolitik der FPÖ.

Hans Peter Mattes (Berlin). Postmoderne Fallenstellerei und das Interesse an der Macht.

Ruth Wodak (Wien). Komplexe Fragen und einfache Antworten: Zur Rhetorik der FPÖ.

 

Parallele Workshops

Workshop 4: Themenbereich 1:

Andrea Birbaumer (Wien). Verschwimmende Grenzen Telearbeit als Symptom für Veränderungen der Arbeitswelt und die Wertigkeit von "Arbeit".

Karin Bott-Bodenhausen (Bielefeld) Die Flexibilisierung des Ehrenamtes.

 

Workshop 5: Themenbereich 2:

Morus Markard (Berlin). Warum ich als Kritischer Psychologe keinen Grund sehe, mich positiv auf das Identitätskonzept einzulassen.

Adam Zurek (Bremen). Entfremdung oder Identität? Zur Konfliktverdinglichung im Bewusstseinsfeld von "politischen" und "Alltags-"Menschen.

Vortrag: Johann August Schülein (Wien). Vom autoritären Charakter zum flexiblen Menschen? Über Veränderungen der Konstitutions- und Reproduktionsbedingungen von Subjektivität.

 

Parallele Workshops

Workshop 6: Themenbereich 2:

Oliver Decker und Elmar Brähler (Leipzig). Subjektivität unter Prothesenbedingungen.

Andreas Henkenberens (Bremen). Kopie oder Original? Über die Ersatzteillager der Identitätsfabriken und den Weg hinaus.

Ilonka Horvath (Wien) Identitäten als kontextabhängige Zugehörigkeiten und ihr Zusammenhang mit Privilegien und Diskriminierung.

Wolfram Kölling (Stiefenhofen). Scham und Schamlosigkeit in der Suchtgesellschaft - über die Bedeutung von Schamgefühlen für die Persönlichkeit und die Entwicklung der Persönlichkeit in der flexiblen Gesellschaft.

 

Workshop 7: Themenbereich 3:

Aglaya Przyborsky (Wien). Technoparties, Breakdance, Fußballrandale - Empirische Rekonstruktion jugendlicher Aktionismen.

Thomas Slunecko (Wien). Die Rückkehr der Arenen.

Gerald Steinhardt (Wien). Media Spaces. Elektronische Räume als neue Medien des Austausches und der Partizipation.

 

Samstag, 02.12.2000

Parallele Vorträge: Hans Joachim Busch (Frankfurt). Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft: Theoretische Bestimmungen und zeitdiagnostische Einschätzungen.

Oliver Marchart (Wien). Re-Founding Europe. Europa und Nationalismus.

 

Parallele Workshops

Workshop 8: Themenbereich 4:

Edgar Forster (Salzburg). Konfliktproduktion und Feindbilder

Thomas Kliche (Hamburg). Panzerkreuzer, Profis, Psychopathen, Primitive. Befeindungsdiskurse und normative Matrizen deutscher Printmedien im Kosovokrieg 1999.

 

Workshop 9: Themenbereich 1:

Rainer Dollase (Bielefeld). Latente ideale temporale Muster - eine Barrikade gegen die Zeitflexibilisierung?

Ines Langemeyer (Berlin). Subjektivitätsformen in der informationstechnologischen Arbeit. Eine ideologietheoretische Untersuchung zum ”Verantwortungs”-zuwachs in den neuen Arbeitsverhältnissen.

Ralph Sichler (Bremen). Neue Arbeitswelt und Autonomie Wege menschlicher Selbstbestimmung im flexibilisierten Kapitalismus. 

 

Parallele Workshops

Workshop 10: Themenbereich 5:

Joe Berghold (Wien). Die globale Gesellschaft als psychologische Herausforderung. Deutschlands.

Dietmar Larcher (Klagenfurt). Vormoderne Politik für eine postmoderne Gesellschaft.

 

Workshop 11: Themenbereich 2 und 3:

Ulrike Böhm (Wien). Akteurinnen im sozialen Wandel - Altagspraxen und soziale Netze von Frauen in der Stadt als Potentiale für neue Solidarisierungsformen und Demokratieentwicklung.

Regina Köpl (Wien). Subjektivität und politische Praxis zwischen klassisch politischer Theorie und feministischen Gegenentwürfen.

Volker Münch (München). Frisches Grün - eine psychodynamische Organisationsberatung für die GRÜNEN.

 

Workshop 12: Themenbereich 1 und 2:

Ute Fischer (Dortmund). Das situative Subjekt? Kontinuität und Wandel der Erwerbsidentität von Frauen im Transformationsprozess nach der deutschen Vereinigung.

Thomas Kieselbach (Bremen). Sozialer Geleitschutz und nachhaltige Beschäftigungsfähigkeit: Ein interdisziplinäres EU Forschungsprojekt zur Bewältigung beruflicher Transitionen.

Schlussvortrag: Heiner Keupp (München). Zukünfte des Individuums: Fitness für den Markt oder Selbstsorge in der Zivilgesellschaft.

 

 

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Impressum: Initiative kritische Psychologie Wien/Daniel Sanin